Jahrmarkt-Wahrsagerei: Von der Tradition zur Moderne

vier TarotkartenTarot Karten machen das Schicksal sichtbar Bild von voyancecam auf Pixabay

Wahrsager – wenn reizt nicht ein Blick in die Zukunft?

Bald ist es wieder soweit: Das größte Volksfest des Nordens, der Hamburger Winterdom lockt vom 3. November bis zum 3. Dezember 2017 mit zahlreichen frischen Attraktionen, die schon auf dem letzten Sommerdom für Begeisterung gesorgt haben. Neben den modernen und teils sogar futuristischen Fahrgeschäften (gemeint ist der Virtual-Reality-Ride „Master of Time“) ist ein ganz bestimmter Ausstellerwagen immer mit dabei. Er trägt ein großes Holzschild, auf dem in goldenen Lettern „Wahrsagerin“ geschrieben steht.

Und diese Wahrsagerin ist Esmeralda, die Tochter der 2015 in Rente gegangenen Sinti-Wahrsagerin „Mama Blume“. Das hellsichtige Mutter-Tochter-Gespann genießt seit über 20 Jahren eine gute Reputation – unter abenteuerlustigen Rummelbesuchern und heilssuchenden Stammkunden gleichermaßen. In den Medien wurde wiederholt über die kartenlegenden und handlesenden Frauen berichtet. Aber was bringt sie immer wieder auf das bundesweit beliebte Volksfest und wer sind die Leute, die ihre Dienste in Anspruch nehmen?

Der sechste Sinn der Sinti

Die Sinti in Deutschland haben eine über 600 Jahre lange Geschichte hinter sich. Nach Hamburg kamen sie wahrscheinlich schon im 15. Jahrhundert, auf der Suche nach Unterkunft und Arbeit, von denen es in der Hansestadt zur Genüge gab. Wie in anderen Regionen und Ländern hatten sie aber bald mit gesellschaftlichen und politischen Restriktionen zu kämpfen. Zwar ließen sich nur die wenigsten Sinti wieder vertreiben, die Gebliebenen verloren aber ihre wirtschaftliche Grundlage, stürzten in die Armut und mussten sich fortan mit Sozialunterstützung und Gelegenheitsarbeiten über Wasser halten. Das Elend der Sinti erreichte im Nationalsozialismus seinen Höhepunkt: Deportationen und Internierungen in Arbeitslagern, so wie es auch Esmeraldas Mutter passiert ist, bevor sie nach Hamburg kam. Nach dem Krieg ging die soziale Ausgrenzung des als „Zigeuner“ beschimpften Volkes weiter. Noch heute sind sie Opfer von Fremdenhass und werden auf dem Arbeitsmarkt oftmals benachteiligt.

Viele Sinti hüten ihre Traditionen und Kultur – dazu gehört auch das Kartenlegen und Wahrsagen. Vor allem weiblichen Mitgliedern ihrer Gemeinschaften wird ein naturgegebener „sechster Sinn“ nachgesagt, der sie dazu befähigt, den Menschen zu helfen und ihnen den richtigen Weg zu weisen. Die Europäer, die diese urtümliche Fähigkeit angeblich vor langer Zeit verloren haben, hegen seit jeher eine große Faszination dafür. Deshalb ist es naheliegend, dass sich Sinti-Frauen wie Esmeralda als Medium verdingen.

Volksfeste sind dafür ein idealer Ort, da dort viele Menschen erreicht werden können. Abseits des Doms führt die Wahrsagerin jedoch ein ganz normales Privatleben.

Keine Magie, sondern Wegweisung

Das Misstrauen und der Zweifel, mit dem Esmeralda oft konfrontiert wird, ist für sie durchaus verständlich. Doch sie heißt ihre Skeptiker gern willkommen und erklärt: „Wir sind nur Wegweiser“. Ihren Rat könne man annehmen oder nicht, das exakte Eintreffen ihrer Prognosen sei dementsprechend eher zweitrangig. Gemäß dieser Sichtweise ist es nicht verwunderlich, dass im Zusammenhang mit Hellsehen und Wahrsagen oft auch von „esoterischer Lebensberatung“ gesprochen wird. Was Esmeralda und Mama Blume eine „Gabe“ nennen, könnte man auch als „Talent“ deuten, das Gegenüber zu erspüren und anhand dieses Eindrucks Handlungsvorschläge für die Zukunft zu machen.

Welche genaue Wirkung dieser Rat letztendlich auf den Empfänger hat, ist schwierig zu bestimmen, da der sechste Sinn wissenschaftlich nicht nachweisbar ist und die Erfahrungen der Anwender höchst unterschiedlich sind. Doch für viele ist die traditionelle Esoterik ein Hoffnungsschimmer in einer schnelllebigen und hochtechnisierten Welt. Wo Zukunftsängste lähmen und Energie kosten, können Vorhersagen wichtige Entscheidungen erleichtern, Mut zum Weitermachen verleihen und vor eventuellen Übeln warnen, sodass man sich darauf vorbereiten kann.